Montag, 11. August 2014

Zermatt, Bergdorf oder Goldmine?

Blick von Täsch in Richtung Zermatt
Wir sind in Zermatt eingetroffen und beziehen für eine Woche Quartier im Chalet Aeschhorn. Unser erster Eindruck: Die Stadt brummt. Auf der Bahnhofstraße, Flanier- und Shoppingmeile, drängt sich ein dichter Besucherstrom. Elektrokarren und Pferdedroschken bahnen mühsam ihren Weg. Für zusätzlichen Rummel sorgt ein Folklore Festival, eine Mischung zwischen Karneval und Schützenfest, das parallel zum Swiss Food Festival stattfindet. Letzteres konzentriert sich nicht allein auf 21 Gourmet-Restaurants des Dorfes, die im Restaurantführer Gault Millau mit 13-16 Punkten bewertet sind, es zelebriert auch zahlreiche 'Kulinarik-Chalets' auf der Bahnhofstrasse. Gedränge und Atmosphäre erinneren an Kölner Weihnachtsmärkte mit dem Unterschied, dass wir uns laut Kalender im Sommer befinden. Richtiger Sommer zeigt sich jedoch in dieser Saison nur tage- oder sogar nur stundenweise. Das Wetter mag zur Überfüllung des Ortes beitragen. Der Aufenthalt in den Bergen ist nämlich überwiegend unattraktiv.
Am Sonntag gerät das Wetter jedoch vorübergehend brauchbar.(1) Am Montag legt das 'wanderglueck' eine regenbedingte Pause ein. Wir unternehmen einen Rundgang durch den Ort, besuchen das Matterhorn Museum, bearbeiten Fotos, posten Erlebnisse der letzten Tage und planen unsere nächsten Aktivitäten. Diashow der Fotoserie


Das historische Zermatt als Bergbauerndorf

Motiv im Matterhorn Museum Zermatt
Bis weit im 19. Jahrhundert war Zermatt tatsächlich ein Bergbauerndorf. Das Matterhorn Museum(2) macht auf zwei unterirdischen Ebenen das Leben früherer Jahrhunderte anschaulich, indem es Relikte des ehemaligen Bergbauerndorfes in Form einer archäologischen Rekonstruktion inszeniert. Das ehemalige Bergbauerndorf verzeichnete bis 1850 deutlich weniger als 500 Einwohner.(3) Im Sommer zogen die Bewohner in mehrere Höhensiedlungen um, und betrieben Almwirtschaft in Streusiedlungen mehrerer Weiler.(4) Hohe Alpenpässe, wie etwa der 3.100 m hohe Theodulpass, wurden nachweislich bereits im Neolithikum als Handelswege genutzt, wobei der Pass in wärmeren Perioden nicht ständig vergletschert war. Bis zum frühen 19. Jahrhundert ist jedoch kein Alpenbewohner auf die Idee gekommen, hohe Berge um ihrer selbst willen zu besteigen.






Anglikanische Kirche St. Peter's in Zermatt
Am Bruch mit der historischen Tradition hatte englischer Adel erheblichen Anteil. Mitglieder des reichen, sportbegeisterten und zu keiner regelmäßigen Berufstätigkeit gezwungenen und darum mit viel Muße ausgestatteten englischen Adels entdeckten den Alpenraum als Option der Freizeitgestaltung. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte bescheidener Tourismus ein. 1865 gelang dem Engländer Edward Whymper mit 6 Begleitern die Erstbesteigung des bis dahin als unbezwingbar geltenden Matterhorns. Das war der Startschuss für den Aufstieg zum weltberühmten Touristenort.(5) Immer mehr Engländer besuchten in Sommermonaten Zermatt. Um im katholischen Kulturraum religiösen Verpflichtungen nachkommen zu können, wurde 1871 mit Hilfe britischer Spenden die anglikanische Kirche 'St. Peter's gebaut, die noch in der Gegenwart aktiv genutzt wird und Besuchern offen steht.(6) 
Einwohnerzahl und touristische Einrichtungen wuchsen schnell. Der 1. Weltkrieg bremste die Entwicklung. Ab 1930 beginnt Zermatt zu boomen.(7) 


Zermatt in der Gegenwart

Grandhotel Zermatter Hof, Pfarrkirche St. Mauritius
5.670 Einwohner und fast 30.000 Betten Übernachtungskapaziät dokumentiert eine aktuelle Infrastrukturübersicht (PDF-Dokument). Gemäß Zahlen des Schweizer Bundesamts für Statistik verzeichnet Zermatt im 1. Halbjahr 2014 nicht weniger als 693.989 Logienächte und liegt hinsichtlich Übernachtungszahlen in der Schweiz auf Platz 3 hinter Zürich und Genf. Zusätzlich reisen täglich zahllose Tagesgäste ohne Übernachtung an. Wer sein Geld nicht einteilen muss, hat die Wahl zwischen 4 Hotels der 5-Sterne-Luxusklasse. Die Preise beginnen bei ca. CHF 500 bzw. 400 € pro Nacht und reichen bis weit über 2.000 (ob CHF oder EUR ist in dieser Kategorie nebensächlich). 101 Hotels und mehr als 2.000 Ferienwohnung, Apartments, Chalets etc. stehen zur Verfügung. Trotz ungünstiger Devisenkurse bezeugen etliche Baustellen einen ungebrochenen Bauboom, obwohl der Raum immer enger wird. Eine Golfanlage darf natürlich nicht fehlen. Diese findet jedoch ortsnah keinen Raum und muss in Richtung des Nachbarortes Täsch ausweichen.




Touristenauftrieb am Gornergrat in 3.100 m Höhe
Im Winter warten 63 Bergbahnen und Lifte sowie mehr als 300 Pistenkilometer auf gut betuchte Skitouristen. Wintersport ist in Zermatt ein Luxusvergnügen für Zeitgenossen mit unlimitierten Luxusbudgets. Mehr als 91.000 Personen können insgesamt pro Stunde transportiert werden. Im Sommer ziehen mehr als 400 km markierte Wanderwege, Bikerrouten und eine große Dichte attraktiver Alpengipfel Wanderer, Mountainbiker und Bergsteiger an.
Zermatt hat sich in den vergangenen 100 Jahren von seinen historischen Ursprüngen weit entfernt und völlig neu erfunden. Wer sich für das Leben im ehemaligen Bergbauerndorf interessiert, muss ins Museum gehen oder in Büchern recherchieren. Folklorefestivals halten zur Bespaßung von Touristen einen Schein von Tradition aufrecht. In der Gegenwart ist Zermatt ein Prototyp kapitalistischer Exzesse. Vor Ort beschauen wir, wie der Einsatz von Finanzmitteln eine Geldvermehrungsmaschine beschleunigt, mit der demonstrativer Luxuskonsum Kriterium für Lebensglück wird.


Bergführer Ulrich Inderbinen

Inderbinen-Brunnen in Zermatt
Als prominenter Einwohner des Ortes besetzt der im Jahr 1900 geborene legendäre Bergführer Ulrich Inderbinen einen herausragenden Platz.(8) Nicht weniger als 370 mal führte Ulrich Inderbinen Gäste auf das Matterhorn. Anlässlich der 125. Jährung der Erstbesteigung des Matterhorns ließ sich Ulrich Inderbinen selbst auf den Gipfel führen.(9) Seine 371. Besteigung dieses anspruchsvollen Gipfels, der alljährlich Todesopfer fordert, meisterte Ulrich Inderbinen im 90. Lebensjahr. Zu seinem 100. Geburtstag ehrte ihn Zermatt mit einem Denkmal, dem Inderbinen-Brunnen. Am 14. Juni 2004 starb Ulrich Inderbinen im Alter von 104 Jahren. Nachrufe schalteten u.a. Schweizer Fensehen, Neue Zürcher Zeitung, Der Spiegel. Fraglos verfügte Ulrich Inderbinen über eine außergewöhnliche körperliche und mentale Konstitution. Bemerkenswert ist jedoch, dass viele schwere Bergtouren seine Gesundheit nicht ruinierten, sondern stärkten. Die Message mag jeder für sich bewerten. Eine Inschrift am Bergführerplatz beim Grandhotel Zermatterhof zitiert Ulrich Inderbinen mit den Worten: 
"Mein Tagesablauf ist geregelt. Stress und Hektik sind mir unbekannt. Ich lebe so, wie ich einen Berg besteige: mein Laufrhythmus ist langsam und bedächtig, aber gleichmässig und zielstrebig. Bei meinen Kollegen bin ich bekannt dafür, dass ich nicht gerne anhalte, bevor ich mein Ziel erreiche."




Grab von Ulrich und Anna Inderbinen
Wer sein Leben in die Hand nimmt und aktiv betreibt, will Ziele erreichen. Aber welche Ziele machen glücklich und wie können wir diese umsetzen? Bei Ulrich Inderbinen können wir Methoden zum Erreichen von Lebenszufriedenheit lernen. Ulrich Inderbinen führte ein entschleunigtes Leben, konzentrierte sich auf wenige Aufgaben, die er liebte, beherrschte und zu einer Kunst entwickelte, die Teil seiner Lebenskunst wurden. Ulrich Inderbinen lebte in der Tradition und verließ sich auf Bewährtes. Moderne Ausrüstungen erklärte er abwertend als 'neumodisches Zeug' und nutzte bis zuletzt zu Sicherungszwecken ein um den Bauch geschlungenes Hanfseil. Diese Haltung wirkt ignorant. Aber warum sollte er etwas verändern, was sich über viele Jahre bewährt hat, und gegen Equipment austauschen, das in der Praxis erst noch den Beweis der Überlegenheit zu erbringen hatte? Ulrich Inderbinen besaß übrigens weder Telefon noch Auto und nicht einmal ein Fahrrad. Er hatte keinen Bedarf für eine Beschleunigung seines Lebens. Wenn wir sein Grab besuchen oder am Inderbinen-Brunnen vorbeischlendern, empfinden wir tiefen Respekt und große Sympathie.







Warum reisen wir nach Zermatt?

Blick vom Gornegrat auf Monte Rosa, Liskam, Castor
Der Hauptgrund ist sehr einfach: Die Bergwelt um Zermatt ist grandios und im Alpenraum einzigartig. Walliser Viertausender schauen wir uns mittlerweile nur noch aus der Halbdistanz an (wenn es die Bewölkung zulässt), aber wir genießen diese Bergwelt noch immer und nehmen dafür einige Nebeneffekte in Kauf. Ferienwohnungen sind übrigens relativ günstig. Wer Selbstversorgung betreibt und haltbare Lebensmittel importiert, hat wenig Stress mit schweizer Preisen.(10) Bergbahnen und Berghütten sind für uns tabu. Deren Preise sind für uns weder akzeptabel noch im Reisebudget unterzubringen.(11) Selbstverständlich ist es interessant, das Leben in Zermatt distanziert zu beobachten und zu analysieren. Reisemotivation beziehen wir jedoch nicht aus diesem Aspekt, sondern aus der ungebändigten Naturlandschaft, die wir unregelmäßig seit 1989 besuchen.




Den Aufenthalt in Zermatt bereuen wir nicht. Trotz der schwierigen Wetterlage konnten wir faszinierende  Touren in der Umgebung einer einzigartigen Bergwelt unternehmen und nebenher wertvolle Erinnerungen unserer Hochtouren-Karriere auffrischen. Abgesehen von Ausgaben für einen Parkplatz in Täsch und Transfers zwischen Täsch und Zermatt liegen dank Ferienwohnung, Selbstversorgung und Vermeidung von Restaurants, Bergbahnen oder Einkehr in Berghütten die Kosten des Aufenthaltes im Rahmen des durchschnittlichen Budgets für Aufenthalte im Alpenraum.

Mit einigen Entwicklungen gehen wir nicht konform. Wer ist Täter, wer ist Opfer? In der Gemengelage von Abhängigkeiten und Wechselwirkungen lassen sich Täter- und Operrollen nicht mehr trennen. Wir sind Teilnehmer einer kulturellen Entwicklung, in der Bescheidenheit, Demut und ethisches Handeln zu menschlichen Schwächen werden, weil die Bewertung von Erfolg auf finanziellen Metriken basiert. Wir profitieren von dieser Kultur, an der wir zugleich leiden.

Zermatt polarisiert und stimmt uns oft ambivalent. Welche Klagen sind berechtigt? Welches Leben erfüllt uns mit Zufriedenheit? Welchen Einfluss haben wir auf unsere Lebenszufriedenheit? Was können wir lernen? Überfluss ist keine Basis für Lebensglück. Glück finden wir nur dann, wenn uns Dinge ausfüllen, die wir um ihrer selbst willen (zweckfrei) mit Liebe, Leidenschaft und Qualitätsanspruch betreiben. Diese Haltung ist nicht ortsgebunden. 
    

Anmerkungen


(1) Zermatter Rundwanderung über Findeln, Blauherd, Tuftern, Europaweg

(2) Eintritt zum Normalpreis CHF 10 bzw. CHF 8 für Seniorens 

(3) Reste des alten Dorfes sind noch in der Hinterdorfstraße und in der Gasse 'Chrum' zu finden.

(4) Die Weiler Furi, Findeln, Tuftern, Zmutt haben einen größeren Anteil ihrer alten Bausubstanz bewahren können und nutzen diese in der Gegenwart touristisch.  

(5) Mitllerweile erlebt der Gipfel des Matterhorns pro Saison Besuch von 2500-3000 Bergsteigern. Aber auch mehr als 500 Bergsteiger sind seit der Erstbesteigung tödlich verunglückt. Einige Zahlen im Überblick bietet das PDf-Dokument Tod am Matterhorn

(6) Der Alpine Club of Great Britain feierte im Jahr 2007 sein 150-jähriges Bestehen in Zermatt mit einer  Zeremonie in St. Peter's. In der Kirche befinden sich zahlreiche Gedenktafeln für englische Alpinisten. Auf einem kleinen Friedhof an der Kirche sind etliche englische Alpinisten bestattet. Im Altar des Chorraums sind die Gebeine zweier englischer Alpinisten eingemauert, die bei der Erstbesteigung des Matterhorns vom 14. Juli 1865 auf dem Rückweg vom Gipfel zusammen mit zwei weiteren Bergkameraden der Seilschaft tödlich verunglückten. 

(7) Bevölkerungsentwicklung Zermatt im Zeitraum 1476-2007: Übersichtsgrafik

(8) In seiner Rubrik 'Outdoor-Legenden' würdigt das Portal Outdoor Channel Das Original vom Matterhorn: Ulrich Inderbinen

(9) Das Schweizer Fernsehen und 3sat übertrugen 1990 die Jubiläumsbesteigung mit einer zehnstündigen Live-Reportage, die wir uns natürlich nicht entgehen ließen.

(10) Schlichte Gerichte wie Rösti oder Pasta liegen um die CHF 20 (je nach Beilage auch mehr). In einfachen Restaurants beginnen die Preise für 'Walliser Teller' (verleichbar 'Marende' in Südtirol, 'Brettljause' in Bayern, 'Vesperbrettle' im Schwabenkand) oder Pizzen bei CHF 20 und für schlichte Fleisch- oder Fischgerichte bei CHF 30. Für eine Kugel Eis ist mit CHF 3 zu rechnen. In den exklusiveren Seiler Restaurants kostet sie CHF 4,50.

(11) Aktuelle Preisübersicht Einzelfahrten der Zermatt Bergbahnen AG

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