Montag, 14. September 2015

Kulturführung in Villanders, Besichtigung von Erdpyramiden bei Lengmoos, Weinverkostung auf dem Waldgrieshof

Kirchfenster in St. Stephan, Villanders
Regnerisches Wetter am Vormittag lädt nicht zur Wanderung ein. Für solche Tage haben wir eine Kulturführung in Villanders im Eisacktal oberhalb von Klausen vorgemerkt. Villanders bietet einen sehenswerten historischen Ortskern, und der Archeoparc Villanders macht eine bedeutende achäologische Fundstätte des Alpenraums öffentlich zugänglich (Besichtigung nur mit Führungen). Während der Führung erfahren wir u.a., dass Villanders erst in der 60er Jahren des 20. Jh. an das Straßennetz im Eisacktal angeschlossen wurde. Pastor und viele Villanderer opponierten, weil sie den Verfall von Sitte und Moral und das Ansteigen von Rocksäumen der 'Mädels' befürchteten. Zu dieser Zeit bot Villanders 30-40 Gästebetten an. Wie auch immer, die Entwicklung war nicht aufzuhalten. Heute ist die Zahl der Gästebetten etwa so groß wie die Zahl der Einwohner, ca. 1.800, und 'Mädels' wie 'Buben' des Ortes folgen internationalen Moden.
Unsere Rückfahrt nach Seis am Schlern führt über den Ritten (nord-östlich von Bozen), um Eindrücke des weiträumiges Hochplateaus mitzunhmen und die berühmten Rittner Erdpyramiden zu besuchen. Auf dem Rückweg treffen wir überraschend auf einen schiefen Kirchturm sowie auf das kleine, feine Weingut Ansitz Waldgries, dessen Besuch wir uns nicht entgehen lassen. Diashow der Fotoserie

Dorfrundgang Villanders
Das letzte Aufgebot, 1872, Franz von Defregger
Defreggerstraße in Villanders
Im Touristikbüro von Villanders zahlen wir schlappe 3 € für 1,5 Stunden Führung. Unser Guide, ehemaliger Schulleiter des Ortes, führt uns zunächst über die malerische Dorfstraße in Richtung Pfarrkirche. Unterwegs erfahren wir, warum die Dorfstraße 'Defreggerstraße' heißt. Franz von Defregger (1835-1921), ein Tiroler Historienmaler, nutzte für sein 1872/74 entstandenes Gemälde "Das letzte Aufgebot" (des Tiroler Landsturms von 1809) die Dorfstraße von Villanders als Umgebung der Szene.(1) Villanderer Dankbarkeit für diese Werbung motivierte zur Umbenennung der Dorfstraße in 'Defreggerstraße'. Der Tiroler Landsturm von 1809 bildet den Nährboden für einen bis heute in Südtirol ungebrochenen Mythos von Andreas Hofer. Aber das ist eine andere Story.(2)



 
St. Stephan und Friedhofskapelle St. Michael
Pfarrkirche St. Stephan
Villanders war im Mittelalter aufgrund von Erzbergwerken am Pfunderer Berg ein prosperierender Ort. Eine um 1200 errichtete romanische Kirche wurde zu klein und im frühen 16. Jh. durch einen großzügigen Neubau im gotischen Stil ersetzt. Der romanische Turm blieb erhalten und bekam eine gotische Haube. Die Innengestaltung der Kirche erfuhr mehrere Anpassungen an Moden ihrer Zeit. Nach dem Großbrand von 1900 war neugotischer Stil angesagt, der bis heute die Ausstattung dominiert. Kulturhistorisch wertvoll ist ein im Originalzustand erhaltenes Kirchenfenster (um 1520), das im unteren Teil Motive aus dem Leben von Bergwerksknappen darstellt.








Friedhof bei St. Stephan in Villanders
Spannender als die Kirche präsentiert sich der Friedhof auf dem Kirchengelände, oft als schönster des Landes bezeichnet. Über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten, aber bemerkenswert ist der Friedhof allemal. Aufgrund von Platzmangel sind die geosteten Gräber auf dem historischen Friedhofsteil dicht angeordnet. Neben der gleichartigen Ausstattung von Gräbern, die nur wenig Abweichungen zeigen, irritieren vermeintlich verkehrt eingesetzte Grabkreuze. Die kunsthandwerklich aufwändig gearbeiteten schmiedeeiserne Grabkreuze wenden sich vom Grabhügel ab. Für diese rätselhafte, in Südtirol einmalige Sitte ist keine belastbare Erklärung bekannt. Die populärste Deutung besagt, dass die Ausrichtung der Grabkreuze auf die Enge des Friedhofs, die Ähnlichkeit der Gräber und Ihre Ostung zurückzuführen sei. Die Anordnung der Grabkreuze erleichtere die Identifizierung einzelner Gräber und veranlasse Besucher, gemeinsam mit ihren Verstorbenen nach Osten zu blicken, wo nach christlicher Auffassung am Jüngsten Tag Christi Wiederkunft erwartet wird.


Archeoparc Villanders
Blick auf einen Teil des Archeoparc Villanders
Erdarbeiten für den Bau einer Wasserleitung und einer neuen Schule am Plunacker stießen im Jahr 1976 auf bis zu 10.000 Jahre alte Kulturschichten. Der Schulbau erforderte Kompromisse, weil Archäologen bald die Einzigartigkeit dieses Fundplatzes erkannten. Dreijährige archäologische Arbeit legte einen Teil dieser Kulturschichten frei, deren herausragende Bedeutung eine dauerhafte Konvservierung als Museum motivierte.(3) Das Museumsgelände ist teilweise mit Glas überdacht. Einen anderen Teil überdacht die auf Säulen ruhende Turnhalle der benachbarten Schule. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ruhen im Plunacker weitere, noch unbekannte Kulturschätze. Um diese für nachfolgende Generationen zu erhalten, bestehen strenge Vorschriften für Geländearbeiten.







Archepoarc Villanders
Stratigraphiesäule
Erste archäologische Grabungen deckten Fundamente römischer Bebauung auf. Eine vertikale Grabung ermittelte unter der Schicht Römerkultur weitere Kulturschichten, die über Eisenzeit, Bronzezeit, Kupferzeit bis in die Zeit frühester Besiedlung des Alpenraums während der Jungsteinzeit um 5000 v. Chr. reichen. Im Archeoparc zeigt eine Stratigraphiesäule(4) zeitliche Abfolge und Mächtigkeit der Kulturschichten. Dass der Berghang bei Villanders zu den ältesten bekannten Siedlungsplätzen im Alpenraum zählt, dürfte, neben Klima und Fruchtbarkeit der Böden, Erzen und ihrer Verarbeitung am Pfunderer Berg geschuldet sein.
Mittelsteinzeitliche nomadische Jäger ließen auf dem Gebiet der Villanderer Alm vor ca. 10.000 Jahren Artefakte zurück, aufgrund der anzunehmen ist, dass prähistorische Kulturgeschichte im Eisacktal spätestens in der Mittelsteinzeit einsetzte.




Übersicht der Grabungsstätte
Fundstücke aus der Bronzezeit
Der Dorfrundgang war unserem Guide offenkundig wichtiger als der Archeoparc. Die verbleibende halbstündige Besichtigung reicht nicht aus, um Details der Funde genauer zu betrachten. Erst nachträgliche Recherche erschließt die Bedeutung von Orten und Funden und fügt isolierte Mosaiksteinchen zu einem Bild mit Tiefenschärfe. Weitere Exkursionen auf der Villanderer Alm (Post 15.09.2015) und in einem Bergwerk am Pfunderer Berg (Post 17.09.2015) ergänzen in den Folgetagen unsere Eindrücke. 



Rückreise über Barbian und Ritten
Erdpyramiden bei Lengmoos, Schlern im Hintergrund
Schiefer Turm von Barbian
Auf der Rückfahrt nach Seis am Schlern über den Ritten, glauben wir in Barbian beim Blick auf den Kirchturm zunächst an eine Störung unserer Wahrnehmung, aber der 37 m hohe Kirchturm der Pfarrkirche St. Jakob sieht nicht nur schief aus, er ist tatsächlich schief und fällt an der Spitze um 1,57 m aus dem Lot.
Auf dem Ritten unternehmen wir beim Ort Lengmoos zwei kurze Wanderungen zu Rittner Erdpyramiden, die als "die höchsten und fomschönsten in Europa" bezeichnet werden. Ob der Anspruch berichtigt ist, vermögen wir nicht zu beurteilen. Im Vergleich zu Hoodoos im Bryce Canyon Nationalpark wirken Dimensionen Rittner Erdpyramiden wie 'Kinderkram'. Bedingungen ihrer Entstehung sind jedoch vergleichbar.



Besuch des Weinguts Ansitz Waldgries
Ansitz Waldgries
Ansitz Waldgries
Ungeplant erblicken wir am Rand von Bozen den Ansitz Waldgries, dessen Weine wir außerordentlich schätzen. Obwohl unsere Transportkapazität kurz vor der Rückreise nach Deutchland bereits am Limit liegt, entschließen wir uns spontan zu einer Verkostung, die gewöhnlich (hier mit Sicherheit) Einkäufe motiviert. Im kleinen Verkostungsraum haben wir Glück. Außer uns ist nur ein weiteres Paar anwesend. Kurz nach unserem Eintreffen stauen sich Besucher. Weißburgunder 2014 und Riservas der Vorjahre sind ausverkauft. Exzellenter Sauvignon Blanc und nicht weniger exzellenter Lagrein überzeugen uns voll. Wir erstehen jeweils 6 Flaschen. Mehr hätten wir ohnehin nicht tranportieren können. Abgesehen vom Wein, lohnt sich auch der auf das 13. Jahrhundert zurückgehende Ansitz.



Anmerkungen
(1) Die Version des Bildes aus dem Jahr 1872 befindet sich in der Neuen Pinakothek, München. Am rechten Bildrand ist der im 13. Jh. erbaute Ansitz zum Steinbock zu erkennen, der in der Gegenwart ein Hotel und ein hoch dekoriertes Restaurant beherbergt. Der Hintergund des Gemäldes zeigt die Kirchsturmspitze der Pfarrkirche St. Stephan.
(2) Artikel von Karl Mittermaier in Zeit Online über Andreas Hofer und das politische Umfeld: "I wer enk nit verlass'n!"
(3) Flyer Archeoparc Villanders im PDF-Format
(4) In der Archäologie bezeichnet Stratigraphie die in einem vertikalen Profil identifzierbare Abfolge kultureller Schichten.

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